Charta für die Mitte von Berlin

Aufruf der Planungsgruppe Stadtkern des Bürgerforums Berlin e.V.

Verlorene Mitte

Die Wiedergewinnung der Mitte von Berlin ist eine verständliche und notwendige Aufgabe. Sie ist angesichts des seit 2013 rasch heranwachsenden Humboldtforums auch äußerst dringend. Das Projekt der Bundesrepublik Deutschland strebt einen neuartigen Dialog zwischen den Kulturen der Welt an. Dementsprechend muss die Stadt dem kulturellen Großakteur in ihrer Mitte eine selbstgewisse Antwort zur Seite stellen. Keine Großstadt Europas hat ihre Mitte im 20. Jahrhundert so oft verloren wie Berlin: durch die flächenhaften Abrisse und die Vertreibung jüdischen Lebens vor dem Krieg, durch die Kriegszerstörungen und die Aufbauplanungen der 1960er und 1970er Jahre sowie schließlich nach dem Mauerfall 1989 durch die Abwicklung der DDR und den Abriss einiger ihrer zentralen Bauten.

Die heutige, nur noch wenig an die Jahrhunderte alte Geschichte erinnernde Mitte ist das Ergebnis der Städtebaupolitik in zwei deutschen Diktaturen. Die Gründe für den Verlust der Mitte reichen jedoch weit in die städtebauliche, politische und gesellschaftliche Geschichte Berlins zurück. Sie sind Gegenstand der historischen Forschung und sollten unter solchem Blickwinkel vermehrt zum Thema werden. Im Kontext dieser Absichts- und Willenserklärung zur Wiedergewinnung der Mitte von Berlin muss der Befund reichen, dass nur wenige europäische Großstädte im 20. Jahrhundert in vergleichbarem Ausmaß wie Berlin zum Schauplatz und Austragungsort von städtebaulichen Konflikten und Konfrontationen geworden sind.

Der Prozess des Verlusts brachte nicht nur die ältere Bausubstanz zum Verschwinden, sondern hatte einen Wechsel der Stadtstruktur zur Folge: Nach den großflächigen Planun- gen und Abrissen der 1930er Jahre hatten die Bomben im Zweiten Weltkrieg eine „mechanische Auflockerung“ (Hans Scharoun) auch der beiden Altstädte Berlin und Cölln bewirkt. Ablehnung und Abbruch der überkommenen Stadt sowie der Bau einer neuen autogerechten Stadt waren ein Ost-West-übergreifendes Phänomen der Nachkriegszeit. In der Mitte Berlins entfielen dadurch die historischen Parzellen als Träger privater Eigentumsrechte. An deren Stelle trat die Repräsentationsachse der DDR-Hauptstadt. Mit dem Mauerfall und der Wiedervereinigung ist der Auftraggeber und Nutzer dieses Städtebaus entfallen. Das Areal der historischen Altstadt neben dem Humboldtforum zeigt sich heute als sinnentleerter Raum, der von Autotrassen flankiert wird, die im europäischen Vergleich beispiellos sind.

Geraubte Mitte

Im Schatten der historisch-politischen Erinnerung schlummerte bislang auch der staatliche Raubzug an der jüdischen Bevölkerung Berlins im „Dritten Reich“. Es erscheint kaum glaublich, dass im Zuge der umfassenden gesellschaftlichen Aufarbeitung der deutschen Schuld in der Bundesrepublik im Verlauf der letzten beiden Dekaden dieses Thema im Zentrum Berlins nicht ausreichend aufgegriffen und wissenschaftlich erforscht wurde.

Tatsache ist, dass die Stadt eher umgekehrt versuchte, im städtebaulichen Planungsprozess davon unhinterfragt zu profitieren. Dank der Ausstellung „Geraubte Mitte“ im Stadtmuseum Berlin (2013/14) kann weder Berlin noch der Bund weiterhin der Auseinandersetzung mit diesem Thema ausweichen.

Doch so sehr die Anerkennung dieser Schuld in alle städtebaulichen Planungen integriert werden muss, so wenig folgt aus ihrer Tatsache allein bereits eine bestimmte städtebau- liche Form und Vorschrift für die Wiedergewinnung der Mitte von Berlin. Zwingend folgt aus ihr nur die geschichts-moralische Bringschuld der Berliner und der Bundespolitik, aktiv auf die im nationalsozialistischen Deutschland Geschädigten und deren Nachfahren zuzugehen; spätestens als Ergebnis oder Mittel eines konsensuellen Städtebaus in der Mitte von Berlin.

Vergessene Mitte

Nach dem Fall der Mauer war die Unsicherheit groß, wie die mehrfach geschichtsentleerte Mitte erneuert werden soll. Der Prozess der Erarbeitung des Planwerks Innenstadt Berlin ist ein Zeugnis dieser Unsicherheit. Dass die Mitte erneuert werden muss, zeigen ihre zahlreichen Unorte: etwa die Verkehrswüste im Umfeld des ehemaligen Molken- marktes, die vornehmlich für den Autoverkehr gebaute und nutzbare Mühlendamm- brücke, die monofunktionalen toten Zonen entlang des in der NS-Zeit geschaffenen Rolandufers und entlang der Breiten Straße, die Parkplatzöden zwischen den Hochhäusern der „Fischerinsel“ sowie die Schnellstraßenatmosphäre am künftigen interreligi- ösen Bet- und Lehrhaus am trostlosen „Petriplatz“. Inzwischen hat der Umbau der Mitte längst begonnen – allerdings isoliert gedacht und geplant, ohne den Zusammenhang einer umfassenden Vision von der Mitte Berlins, ohne umfassende Kenntnis der Geschichte des Ortes und seiner Potenziale für die Zukunft. Es droht eine beliebige Ansammlung von Einzelprojekten, die zusammen keine Stadt formen und keine Mitte bilden.

Neue Mitte

Berlin muss mithin seine Vergangenheit neu bedenken. Das schließt neben den erwähn- ten Phasen und Epochen auch die in der Öffentlichkeit nahezu vollständig vergessenen 500 Jahre vor dem 30jährigen Krieg (1618-1648) ein. Eine solche historische Vergewisserung ist keineswegs rückwärts orientiert, sondern richtet sich im Gegenteil in die Zu- kunft. Die neue Mitte ist ein Projekt der lokalen, nationalen und internationalen Darstel- lung Berlins als Stadt der Aufklärung, Toleranz und Nachhaltigkeit sowie als Zentrum der Erinnerung begangener Verbrechen. Dazu gehören Orte und Institutionen, die dieser Darstellung dienen, dazu gehört aber auch ein städtebauliches Programm, in das diese Orte und Institutionen eingebettet sind.

Das Gebiet der Mitte von Berlin ist klar umrissen: Es umfasst den heutigen Raum der mittelalterlichen Doppelstadt Berlin/Cölln, also den Stadtkern. Während die barocke Stadterweiterung der nördlichen Friedrichstadt und der Dorotheenstadt mit den Straßen Unter den Linden und Friedrichstraße in den letzten drei Jahrzehnten erneuert wurde, ist die Gestaltung der Mitte ungeklärt und umstritten. Sie ist daher die zentrale Aufgabe von morgen. Der Streit um die angemessene und unserer Zeit entsprechende städtebauliche wie architektonische Form muss öffentlich geführt werden. Entscheidende Maßgabe und Begrenzung im Findungsprozess muss lediglich sein, dass die Mitte von Berlin nicht der kommerziellen Festivalisierung und Vermarktung überantwortet wird, sondern in die gesellschaftliche Trägerschaft der Stadt gerät. Hierfür sind geeignete sozial verpflichtete Formen des Eigentums zu etablieren.

Ziele

Für eine Wiedergewinnung der Mitte gibt es weithin anerkannte allgemeine Ziele, deren konkrete Ausformulierung noch offen ist:

  • Schaffung eines weltoffenen, sozial integrativen Schaufensters des neuen Deutschlands in Europas Mitte.
  • Erinnerung an die reiche, mehrfach hart gebrochene Geschichte Berlins, auch an die 500 Jahre vor dem 30jährigen Krieg, auch an die beiden Diktaturen des 20. Jahrhunderts.
  • Orientierung am Jahrhunderte alten Stadtgrundriss unter Einbezug neuer Eingriffe und künftiger Projekte.
  • Abschied vom autogerechten Städtebau.
  • Städtische Balance zwischen neuer Bebauung und öffentlichen Plätzen bzw. Grünräumen.
  • Mischnutzung mit hohem Wohnanteil und kulturellen Einrichtungen.
  • Verbesserte Vernetzung der neuen Mitte mit den umgebenden Stadtteilen und der gesamten Stadtregion.

Projekte

Im Gebiet des ehemaligen mittelalterlichen Berlin gibt es bereits zahlreiche isolierte Projekte:

  • Bau des Humboldtforums
  • Neuplanung für Molkenmarkt und Klosterviertel
  • Neugestaltung des Petriplatzes und der Breiten Straße
  • Neugestaltung des Neuen Marktes und des Marienkirchhofs
  • Neuplanung für das Areal zwischen Karl-Liebknecht-Straße und Stadtbahn (Rochstraße)
  • Rückkehr herausragender Denkmäler an ihre Originalstandorte (Lutherdenkmal, Neptunbrunnen, Königskolonnaden, Gerichtslaube, Großer Kurfürst)
  • Diskussion um den Großen Freiraum.

Neben den zu klärenden und miteinander abzustimmenden Leitprojekten ist die bessere Vernetzung der Mitte mit der übrigen Stadt und ihren Bezirken eine zentrale Aufgabe.

Dabei spielen die als Marktorte vor den Toren der Altstadt entstandenen Plätze eine zentrale Rolle:

  • Spittelmarkt
  • Hackescher Markt
  • Alexanderplatz
  • Holzmarkt (Kreuzung Stralauer Straße/Alexanderstraße).

Trägergesellschaft

Den vorliegenden Plänen und Teilprojekten fehlt eine gemeinsame Grundorientierung und Organisation, eine Trägergesellschaft, die den Planungen eine nachhaltige Perspek- tive geben kann. Für die Trägergesellschaft, die über Stadtplaner und Architekten hinaus auch Historiker, Künstler, Intellektuelle, Tourismusvertreter und andere Experten der Stadt umfassen muss, bedarf es eines festen Ortes in der Stadtmitte, einer ausreichenden Ausstattung und einer Institutionalisierung.

Europäische Schlüsselaufgabe

In den Plänen, Vorschlägen und Debatten über die Berliner Mitte seit dem Fall der Mauer zeigt sich die Unsicherheit, was eine Stadtmitte von morgen ist, und wie ein Ort mit einer 800jährigen komplexen und widersprüchlichen Geschichte zukunftsorientiert und nach- haltig gestaltet werden kann. Die gesellschaftlich erarbeiteten und akzeptierten Antworten auf diese historischen Herausforderungen müssen noch gefunden werden. Es werden (und dürfen) keine simplen Antworten mit nur einer Idee, einer Gestaltung, einer Funktion sein. Für Berlin ist die Suche nach diesen Antworten eine Schlüsselaufgabe. Sie ist zugleich eine Aufgabe von höchstem internationalem Interesse. Auch andere Großstädte der Welt stehen vor der Frage, wie ihre Stadtmitte als schönes, historisch faszinierendes, Identifikation stiftendes und sozial inklusives Schaufenster der Stadtregion gestaltet werden kann.

In Berlin gibt es Raum für Gestaltungsmöglichkeiten. Die Verarbeitung der politischen und städtebaulichen Lasten des 20. Jahrhunderts eröffnet großartige Chancen für neue zeit- gemäße Stadträume und Gebäude, die allen Berlinern und ihren Gästen gleich welcher sozialen und ethnischen Herkunft, gleich welcher religiösen und geschlechtlichen Orien- tierung offen stehen. Berlin setzt damit städtebauliche und architektonische Zeichen für die symbolische, funktionale und gestalterische Form einer Stadtmitte von morgen.

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